Live-Kommentierung von Sarah-Maria Bürgin
über die Performance „The Body Archive. The Encyclopedia of Tragic Attitudes, Part II: The Feminine Figures“ von Lindy Annis und Joséphine Evrard
6. Oktober 2011, Tagung „Recollecting the Act“ in der Kaserne Basel
Interview: 8. Oktober 2011 (bm)
Transkription: 12. Oktober 2011 (dt)
„Wenn jemand gut erzählt, dann gibst du deine Tätigkeit auf und gehst dahin“
Ich begrüsse dich ganz herzlich, Barbara Loreck. Wir unterhalten uns kurz über die Sprech-Installation mit Sarah-Maria Bürgin vom 6. Oktober. Kannst du mir kurz sagen, was du gesehen hast?
BL: Ich bin draussen geblieben, weil ich die Performance von Lindy Annis und Joséphine Evrard schon mal in einer längeren Version in Berlin gesehen habe, in den Sophiensaelen. Und dann war ich neugierig auf die Beschreibung von der Schauspielerin vor dem Bildschirm. Am Anfang wusste ich nicht, weil sie Kopfhörer aufhatte, dass die keinen Ton hört. D.h., sie hat die Musik hören können, aber die gesprochene Sprache konnte sie nicht hören. Deswegen war sie sozusagen über lange Strecken nur darauf angewiesen, zu dem, was sie sieht, zu sprechen.
Kannst du kurz erzählen, was das für eine Performance ist? Ich hab sie auch nicht gesehen. Worum geht es darin?
BL: Lindy Annis und Joséphine Evrard haben sich mit griechischen Fresken beschäftigt und mit einem Gemälde der Renaissance, das die Verkündigung der Maria darstellt. Aus den griechischen Fresken… Das waren alles Frauengestalten, die sie sich ausgesucht haben… Das stimmt gar nicht, fällt mir jetzt ein, sie haben auch über Gemälde gesprochen.
Soweit ich mich erinnere, sind es alles antike Gemälde. Aus diesen Gemälden hat dann die Tänzerin Joséphine sozusagen die Haltung der Figuren herausdestilliert. Aber irgendwie ist es auch mehr als die Haltung. Sie hat irgendwie einen sehr entrückten Ausdruck gehabt da drin. Das hat sie sozusagen als statische Figuren in den Raum gestellt. Es war ganz hell beleuchtet, vor einer Projektionsfläche, hier. In Berlin auch. Lindy Annis hat dazu erklärt, um was für eine Skulptur, Freske oder um was für ein Gemälde es dabei geht.
Eine Person war aktiv auf der Bühne und die andere war aktiv am Sprechen?
BL: Ja, die Lindy Annis sass auf einem Stuhl, ein ganzes Stück von der Bühne weg, aber in einem Bezug zu der Figur auf der Bühne.
Der gesprochene Text war ganz wichtig um nachvollziehen zu können?
BL: Ja. Das war der erste Teil. Der zweite Teil ist dann, dass beide Frauenfiguren auf der Bühne sind. Und beide nehmen Posen ein, über die eine Art Bezug entsteht. Gerade weil es sehr viel Gestik gibt in den Bildern, teilweise auch lustige Gesten.
Mit den Händen und den Füssen?
BL: Die Fusspositionen, ja. Ob die Figur ganz gerade und steif steht. Umso mehr es in die Renaissance ging, umso mehr waren dann die Hände wichtig. Bei den griechischen Figuren war es eher eine sehr steife Position, wie ein in den Nacken geworfener Kopf, so wie man das irgendwie kennt. So eigenartige Handpositionen, was dann eben bei den Gemälden gefehlt hat. Wenn es z.B. Judith auf Holofernes war, dann hat eben der Kopf gefehlt, den sie in der Hand hatte.
Die Schauspielerin, die draussen vor dem Monitor sass, hat eben diese Erklärungen von Lindy Annis nicht hören können, weil die nicht verstärkt waren, und hat dann erstmal sehr genau beschrieben, was sie sieht. Die Position der Figur auf der Bühne und „die Tänzerin hat ein weisses Kleid an, vor einer hellen Bühne.“ Dabei hat dann die Schauspielerin vor dem Monitor immer wieder versucht zu verstehen, wie die Beziehung zwischen den beiden ist. Weil das irgendwie über die Handgestik der Lindy Annis klar war, dass da ein Bezug aufgebaut ist. Aber es war zu wenig sichtbar, welcher Bezug das ist. Da ist dann so eine Ebene entstanden von Vermutungen, dass sie Anweisungen gibt. Oder dass sie jetzt mit einer Figur nicht zufrieden ist und das verbessert. Oder dann hat sie das ganz speziell wahrgenommen, wenn Lindy Annis nicht mehr zur Figur gesprochen hat sondern ins Publikum rein. Und hat da interpretiert, dass da was Wichtiges mit dem Publikum passiert.
Sie hatte diesen kurzen Ankündigungstext auch gelesen und war irgendwie schon auch in dem Kontext von „Griechische Bilder“, aber hat es nicht zusammengebracht. Dann hat sie so vor dem Monitor gesessen und war auch so ein bisschen verzweifelt, dass ihr so viel fehlt an Elementen, um das gut zu beschreiben. Und dann fing sie an, mit ihren eigenen Händen noch mal so einen Tanz zu machen, vor dem Monitor. Das war sehr schön anzuschauen, wie sie dann so darauf verweist: „Jetzt ist die Tänzerin mehr links im Bild. Und die Frau in Schwarz…“ Sie hat immer nur „die Frau in Schwarz“ und „die Frau in Weiss“ gesagt, „…die gestikuliert gerade“ und dann hat sie das vor dem Monitor alles nochmal mitgemacht. Dann, nach einer Weile, hat sie mich gebeten, ob ich mal reingehen könnte, zu den Technikern, und sagen, sie höre keinen Ton, ob die Techniker ihr nicht den Ton auf den Kopfhörer legen können. Woraufhin die Techniker ein bisschen unglücklich waren, dass ich sie daa gefragt habe, weil sie vorhin schon erklärt hatten, dass das nicht gehe. Dann bin ich wieder rausgekommen.
Dann gab’s sozusagen die zweite Sequenz: die Ankündigung der Geburt Jesu an Maria durch den Engel Gabriel.
Dieses Bild war überhaupt nicht präsent in der Beschreibung. Sie kam dann so auf die Idee, das könnten zwei Töchter sein oder das könnten zwei Schwestern sein oder das könnten zwei Mütter sein. In ihrer Not, dies auch mit der heutigen Zeit in Verbindung zu bringen, sagte sie dann: „Ach, jetzt hab ich’s verstanden! Das ist eine Figur in der Vergangenheit und die schwarze Figur ist in der Gegenwart. Die von der Gegenwart redet mit der aus der Vergangenheit.“
Das hat dann für mich eine völlig andere Geschichte kreiert, die sich da drübergelegt hat, was ganz ganz weit weg war von dem Gemälde. Und wo in der Tat, so wie sie’s dann beschrieben hat, eine riesige Lücke war zwischen der antiken Figur, die im zweiten Teil nicht so viele Posen einnimmt, sondern eher die Rezipierende ist, weil sie diese Ankündigung kriegt, und der ankündigenden Figur, die seltsame Positionen einnimmt. Wo man sich gefragt hat: Und was ist jetzt mit der, wenn die in der Moderne ist, in unserer heutigen Zeit, was macht die denn da?
Das hat ganz viele, für mich irgendwie schöne Fragezeichen in den Raum gestellt. Sie konnte auf dem Monitor… Es gab zwischendurch auch so Textprojektionen, die waren nicht lesbar, da war einfach die Qualität zu schlecht. Dann hat es so einen Umschwenk gegeben in den Raum auch. „Ach, jetzt sitzen hier vier Frauen am Tisch und reden miteinander.“ Dann hat sie aus dem Raum hier draussen Elemente mitreingenommen in die Geschichte. Sie hat aber so intensiv erzählt, dass am Schluss alle, die hier draussen im Raum waren, um sie herumstanden, um ihr zuzuhören, wie sie diese Bilder beschreibt.
Das war richtig gut.
Das war im Moment, als die Performance schon zu Ende war?
BL: Noch währenddessen.
Noch währenddessen standen Personen um sie herum und haben ihr zugehört?
BL: Und haben ihr zugehört, wie sie’s beschreibt.
Wie waren die Reaktionen des Publikums?
BL: Die, die rumstanden ?
Ja.
BL: Erstmal war ich fasziniert davon, wie das funktioniert hat, weil sie so konzentriert war. Wie sie wirklich über die Ausstrahlung der Konzentration die Leute zu sich gezogen hat. Tatsächlich eigentlich, wie beim Geschichtenerzählen von früher, dachte ich so. Wenn jemand gut erzählt, dann gibst du deine Tätigkeit auf und gehst dahin.
Dann war es amüsiert. Die, die rumstanden, haben sich sehr amüsiert darüber.
Haben Sie auch die Performance bereits gesehen und das irgendwie mitgekriegt, was du mir jetzt erzählst?
BL: Nein.
Oder war das aus der Situation hervorgegangen?
BL: Ja, ich glaube, die anderen vier, die da standen… Ich glaub nicht, dass sie die Performance von Annis/Evrard kannten. Die anderen Umstehenden, die haben sich nämlich gefragt, ob das, was die Schauspielerin beschreibt, nach innen übertragen wird, ob das für die aktuelle Performance hörbar wird. Und das fand ich auch noch einmal eine witzige Anregung, ausser, dass es die Performance völlig aus dem Konzept gebracht hätte. Aber diese Beschreibung zu hören, wäre auch nochmals eine interessante Variante gewesen.
Ich fänd’s einfach auch interessant: Was entsteht eigentlich, wenn ich nur sehe und wenn der Text, jetzt in dem Fall durch ein technisch kleines Versehen, wenn der Text fehlt. Wie sie diese Geschichte dann anders interpretiert hat und doch versucht hat, Zusammenhänge herzustellen. Für mich waren das dann wie so… hm, das könnte man öfters machen bei einer Performance: einfach mal den Ton ausblenden und jemandem zeigen, der es nicht kennt, und sagen: „Was siehst du?“ Das ist ein tolles Feedback.
Danke schön. Das freut mich. Und du hast ja auch eine wunderbare Art zu erzählen.