Textstück von Barbara Loreck zu Kläring/Salzmann

„37 Jahre zu spät“. Performance von Julia Kläring und Andrea Salzmann
8. Oktober 2011, Tagung „Recollecting the Act“ in der Kaserne Basel

Geschrieben von Barbara Loreck, Berlin/Basel, 13. Oktober 2011

Ich trete in den dunklen Bühnenraum – ein Türrahmen mit leuchtenden Glühbirnen steht auf der Bühne. Ich denke an Zirkus. Vor den ehemaligen Raufen für die Militärpferde der Kaserne und den Ringen zum Anbinden, eine Reihe von Plastikflaschen mit Milch, kopfüber befestigt. Zirkus und Jungtieraufzucht mit der Flasche. Dunkelheit. Mit dem Auftritt der beiden identisch gekleideten Performerinnen wird mein Bild vom Zirkus sofort durch das einer Talkshow abgelöst. Über ihren Sprachgestus, die exakt choreographierten Handlungen und Bewegungen werden sie schnell zu wortgewandten Moderatorinnen. Und vor allem, von „zu spät“ keine Spur! Was würden sie ausstrahlen und tun, wenn sie tatsächlich zu spät wären? Und zu spät wofür?
Zu-spät-Sein hat mir zum Beispiel kurz den Atem geraubt, als ich beim Blick auf meine Eintrittskarte am Einlass zu einem Konzert mit Yehudi Menuhin feststellte, dass Konzertbeginn und Datum identisch sind mit dem Datum auf meinem Rückflugticket von den USA nach Europa. Für eine entscheidende Hilfeleistung zu spät zu kommen kann dramatisch oder existentiell sein. Oder man hat dummerweise den Anfang eines Kinofilms verpasst und damit den Auslöser für die ganze Handlung. Egal wie gravierend die Folgen ausfallen, Zu-Spät-Sein steht immer in Verbindung mit etwas Verpassen. Wer ganze 37 Jahre zu spät ist, scheint zumindest über den Verdacht erhaben, an den kleinen Machtspielen des Alltags beteiligt zu sein, die über Zu-spät-Kommen und Jemanden-warten-lassen ausgetragen werden.
Die beiden Performerinnen jedenfalls sind nicht außer Atem, sie scheinen mit dem Zu-spät-Sein durchaus einverstanden, bietet es ihnen doch eine günstige Ausgangsposition, um die Unmittelbarkeit des Erlebens einer Performance in Frage zu stellen, bzw. ironisch zu distanzieren. So stellen sie freche Behauptungen über das Wetter am Tag der Performance von Autoportrait am 11.Jan. 1973 auf und wissen genau über das Ausmaß des Zigarettenkonsums an dem Abend in der Galerie Bescheid.
Die Arbeit der Fotografin Françoise Maçon während der 3-teiligen Realisierung von Autoportrait stellen sie als Element der sehr durchdachten Konstruktion der Performance dar. Aber damals wie heute steht die Fotografin irgendwie im Bild – sie stört die unmittelbare Wahrnehmung. So wie die Fotos der Aktion damals genau inszeniert waren, ist der gesamte Bühnenraum 37 Jahre danach streng und minimalistisch organisiert. Selbst die schriftlichen Dokumente der Aktion sind alle auf ein A3 Format übertragen und einheitlich typografisch gestaltet. Könnte es ein Kommentar sein zu all den gestohlenen blutigen Taschentüchern und gereinigten Rasierklingen, die nach der live-Aktion zirkulierten?

Nicht nur über die Kleidung, die in Übereinstimmung mit der Kleidung von Gina Pane bei der Aktion gewählt wurde, sind sich die Performerinnen relativ ähnlich, sondern auch über Körpergröße, Körperbau und den Haarschnitt. Sie sprechen über das Eins-Werden mit der abwesenden Künstlerin qua ihrer körperlichen Ähnlichkeit. Auch wenn die uneinholbare Abwesenheit der Künstlerin hervorgehoben wird, formuliert sich über das Konzept eine große Sehnsucht nach Nähe zu der Künstlerin und ihrer Aktion. Oder nach dem Dabei-Sein, nach Nähe, ohne den Schmerz zu erfahren. Die Vielzahl der Rollen, die die Performerinnen auf sich vereinigen, um ihrer „Sache“, vielleicht sich selbst, näher zu kommen, lässt die Ironie der Wetterbehauptung oder esotherischen Geisterbeschwörung hinter sich. Sie vervielfachen sich, sie werden zu zwei Gina Panes und zu Zeitzeuginnen in der Galerie und sie sind diejenigen, die die Dokumente und Überreste von Autoportrait heute mit 37 Jahren Abstand betrachten. Nähe wird sogar über eine angedeutete Mutter-Tochter-Berziehung reklamiert. Was übt die Faszination auf die beiden Performerinnen aus, dass sie zwar nicht außer Atem sind, aber dennoch sich, wenn auch nicht dem Metallbett mit den Kerzen drunter, so doch zumindest dem rejet, dem Gurgeln mit Milch aussetzen? Geht es darum, in der Figur der Gina Pane die eigene Schmerzgrenze auszuloten und dabei dank der zeitlichen Distanz ein strahlendes Lächeln bewahren zu können?
Vielleicht verschwimmt die Antwort-Aktion in der Milchlake, die sich vor den Performerinnen immer weiter ausbreitet? Vielleicht hat sie Anteil an der gewiss auch voyeuristisch geprägten Lust, einem Prozess körperlichen Leidens unmittelbar beizuwohnen? Und sie retabliert bzw. verstärkt die Haltung, dauerhafte Spuren des Leidens „nicht zu zeigen“. Mir fällt auf, dass versehrte Körper sich nicht zeigen sollen. Sie durchkreuzen heute wahrscheinlich noch seltener unsere Wahrnehmung als 1973. Wenn Gina Pane vom Metallbett über den Kerzen steigt, geht sie relativ unbeachtet in einen Winkel des Raumes und reibt sich den Rücken – die Performerinnnen entrücken diesen Moment ein weiteres Mal: sie performen die Handlung für das Video und spielen es als abgegrenztes Bild auf dem Monitor ab.
Sie gurgeln also exzessiv mit Milch und spucken die Reste in den Raum. Die Mikroports bleiben während der ganzen Prozedur unversehrt, während die Hemden sich mit Milch vollsaugen und immer durchsichtiger werden. Schließlich enthüllen sie einen unversehrten weiblichen Körper mehr als dass sie ihn verhüllen.
Fotogene Schaumgebilde treten vor den Mund. Die Milch könnte zu Gift geworden sein. Oder wenn die Performerinnen vor Wut schäumen würden?

Eine Bühnentechnikerin sammelt aus den Milch- und Blutpfützen die verstreuten Requisiten und wischt dann sorgfältig und in aller Ruhe alles weg.

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Über archivperformativ

archiv performativ: ein Modell: Ein Vermittlungs- und Ausstellungsprojekt von Performancekunst und ihren Artefakten im Ausstellungsraum Klingental, Kasernenstrasse 23, 4058 Basel / www.ausstellungsraum.ch Ausstellung vom 14. August bis 11. September 2011 Öffnungszeiten: Di. bis Fr. von 15 bis 18 Uhr, Sa. und So. von 11 bis 17 Uhr Der Ausstellungsraum dient rund zwanzig eingeladenen Künstler/innen, Kurator/innen, Forschenden, Dozierenden und ihren Student/innen aus dem In- und Ausland als Experimentierfeld, Forschungsstation und Aufenthaltsraum. Zentraler Aspekt dieser Anlage ist es, verschiedene methodische Zugänge und theoretische Ansätze im gegenseitigen Austausch der verschiedenen wissenschaftlichen und künstlerischen Felder zu erproben, zu diskutieren und in öffentlichen Veranstaltungen zu präsentieren – in gewisser Weise Forschung auch als performativen Vorgang zu betreiben. Öffentliche Präsentationen und Veranstaltungen: Freitag, 19. August, 26. August, 2. September und 9. September, jeweils um 18 Uhr Die Veranstaltungen am Ende jeder «Projektwoche» bieten die Gelegenheit, unmittelbar in die Forschungsarbeit Einblick zu nehmen und mit den Gästen ins Gespräch zu kommen. Das Spektrum reicht von Live-Performances über Filmvorführungen bis hin zu Vorträgen und moderierten Diskussionen. archivperformativ.wordpress.com/category/archiv-performativ-ein-modell/
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